Allgemeines
Der Sehprozess ist eng verwandt mit dem Riechprozess, der ja bereits auf einer der vorherigen Seiten erklärt wurde.
Wir befinden uns hier im oberen Teil des Außensegments eines Photorezeptors, drei der Discs sind vergrößert dargestellt, und man erkennt die drei Schlüssenenzyme des Sehprozesses, das Rhodopsin, das Transducin und die Phosphodiesterase.
Ein Lichtquant kann 3000fach verstärkt werden
Im Zentrum des Sehprozesses steht das Protein Rhodopsin. Das Rhodopsin besteht aus zwei Anteilen, dem Protein Opsin und dem Aldehyd Retinal. Das Retinal spielt eine Schlüsselrolle im Sehprozess. Wenn das Retinal-Molekül Licht absorbiert, ändert es seine Struktur (siehe "Der Retinal/Retinol-Zyklus"). Daraufhin wird auch der Opsin-Anteil des Rhodopsins verändert, und das aktivierte Rhodopsin wiederum aktiviert bis zu 3000 Transducin-Moleküle, die sich ebenfalls in der Membran der Discs befinden. Der eingefallene Lichtreiz wird also 3000fach verstärkt.
Aber damit sind wir noch lange nicht am Ende. Jedes Transducin-Molekül wiederum kann ein Molekül des Enzyms Phosphodiesterase aktivieren. Hier kann man keinen Verstärkungseffekt beobachten; das Verhältnis Transducin zu Phosphodiesterase ist ungefähr 1:1.
Die Rolle der Phosphodiesterase
Jedes Phosphodiesterase-Molekül kann den sekundären Botenstoff cGMP in einfaches GMP umwandeln (cGMP = cyclisches Guanosinmonophosphat, GMP = Guanosinmonophosphat, ähnlich aufgebaut wie cAMP bzw. AMP). Hier kann man wieder einen enormen Verstärkungseffekt beobachten: Jedes Phosphodiesterase-Molekül kann ca. 2000 cGMP-Moleküle in GMP umwandeln.
Der Gesamtverstärkungseffekt hat jetzt den Wert 6.000.000; in Worten: sechs Millionen. Das heißt, ein einzelner absorbierter Lichtquant kann den Abbau von sechs Millionen cGMP-Molekülen zu GMP verursachen.
Was bewirkt jetzt dieser massive Abbau von cGMP?
Bisher haben wir uns auf die Membran der Discs konzentriert, die sich zu Hunderten im Innern eines Photorezeptors befinden. Schauen wir uns nun die Außenmembran eines Photorezeptores an. Dort befinden sich weitere Enzyme bzw. Proteine.
Der Dunkelstrom
Die Natrium-Kanäle in der Außenmembran sind normalerweise - also im Dunklen - geöffnet. Das ist allerdings ungewöhnlich. Normalerweise sind Natrium-Kanäle im "Ruhezustand" geschlossen und werden erst dann geöffnet, wenn die Zelle Informationen empfangen oder weiterleiten soll. Chemisch gesteuerte Natrium-Kanäle der postsynaptischen Membran öffnen sich beispielsweise erst dann, wenn die präsynaptische Zelle Neurotransmitter ausschüttet. Spannungsgesteuerte Natrium-Kanäle der Axonmembran öffnen sich erst dann, wenn das Membranpotenzial am Axon einen gewissen Schwellenwert erreicht hat. Die Natrium-Kanäle in der Außenmembran eines Photorezeptors sind aber im Dunklen, also im "Ruhezustand", ständig offen. Das ist schon recht eigenartig und spannend und schreit geradezu nach einer Erklärung.
Die Natrium-Kanäle der Außenmembran eines Photorezeptors werden durch cGMP-Moleküle offengehalten, die sich in ein entsprechendes allosterisches Zentrum der Kanalproteine setzen. Das erinnert ein wenig an den Riechprozess, wo die Natrium-Kanäle durch cAMP-Moleküle geöffnet wurden. Durch die geöffneten Kanäle fließen ständig Natrium-Ionen nach innen, und die Natrium-Kalium-Pumpe ist ständig aktiv, um diese Natrium-Ionen wieder nach außen zu befördern. Man spricht hier von einem ständigen Dunkelstrom. Das Membranpotenzial liegt bei einem Stäbchen im Dunklen ungefähr bei -30 mV.
Licht unterbricht den Dunkelstrom
Wird der Photorezeptor nun belichtet, so wird die oben beschriebene Verstärkungskaskade in Gang gesetzt; ein einziges Lichtquant sorgt für den Abbau von sechs Millionen cGMP-Molekülen. Wenn die cGMP-Moleküle abgebaut werden, können aber die Natrium-Kanäle in der Außenmembran nicht mehr offen gehalten werden, und der Dunkelstrom kommt zum Erliegen. Der Photorezeptor schaltet auf "passiv", das Membranpotenzial verändert sich auf Werte, wie sie für ein Ruhepotenzial typisch sind, also auf ca. -70 mV.
Wieso sehen wir dann etwas, wenn die Photorezeptoren bei Belichtung abschalten?
Hier muss man wieder etwas "um die Ecke" denken. Stichwort: doppelte Negation!
Die Photorezeptoren sind über ihre synaptischen Endknöpfchen mit weiteren Nervenzellen verbunden, mit den sogenannten Ganglienzellen. Im Dunklen, also im Ruhezustand (der aber keiner ist, weil ja der Dunkelstrom fließt), entlassen die synaptischen Endknöpfchen der Photorezeptoren Neurotransmitter in den synaptischen Spalt, die aber einen hemmenden Einfluss auf die Ganglienzellen haben. Im Dunklen wird also verhindert, dass die Ganglienzellen erregt werden, durch den ständigen Dunkelstrom der Photorzeptoren und durch die ständige Ausschüttung von hemmenden Neurotransmittern.
Sobald die Photorezeptoren bei Belichtung "abschalten", entfällt diese Hemmung, und die nachgeschalteten Ganglienzellen können ihrerseits aktiv werden und Neurotransmitter an die nächsten Nervenzellen abgeben. Diese Neurotransmitter sind dann erregend, und über weitere Nervenzellen gelangt diese Erregung schließlich zum Gehirn, wo dann das "Seherlebnis" stattfindet.