Stabilisierende Selektion

Wenn die Eigenschaften, die für eine gute Anpassung an die Umwelt verantwortlich sind, auf die nachfolgende Generation weitervererbt werden, so sollte diese nächste Generation schon ein wenig besser an die Umwelt angepasst sein. Natürlich herrscht auch in dieser Generation wieder ein Überschuss an Nachkommen, so dass erneut eine Selektion einsetzt. Die am besten an die Umwelt angepassten Individuen werden abermals mehr Nachkommen haben als die weniger gut angepassten, und die Eigenschaften, die hierfür verantwortlich sind, werden in der nächsten Generation wieder überdurchschnittlich stark vertreten sein. So findet ein Optimierungsprozess statt, der langfristig zu einer stabilisierenden Selektion der Population führt; zu einer immer besseren Anpassung an die gegebene Umwelt.

Die stabilisierende Selektion verhindert einen größeren Wandel innerhalb einer Population. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Population bereits recht gut an die Umwelt angepasst ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht-letale Mutation zu einer noch besseren Anpassung führt, ist extrem gering. Viel wahrscheinlicher ist es, dass eine nicht-letale Mutation die Angepasstheit des Individuums verringert.

Die Abbildung 1 zeigt eine abstrakte Darstellung der stabilisierenden Selektion. Die gelbe Kurve stellt die Verteilung der verschiedenen Phänotypen in einer Population dar. Auf der waagerechten Achse könnte zum Beispiel könnte die Halslänge von Giraffen aufgetragen sein, auf der senkrechten Achse die Anzahl der Individuen mit der jeweiligen Halslänge. Wie man sieht, liegt eine typische Glockenkurve vor, eine so genannte Normalverteilung, wie sie auch für die Körpergröße oder die Intelligenz der Menschen gilt. Die meisten Individuen haben eine mittlere Halslänge, nur wenige Tiere haben einen sehr langen oder sehr kurzen Hals. Wirkt nun die stabilisierende Selektion über einen längeren Zeitraum auf die Population ein, so führt das dazu, dass die Tiere mit extrem kurzem oder extrem langem Hals immer weniger werden, während der Durchschnitt immer häufiger wird. Die Folge ist eine zunehmende Einengung der phänotypischen Variabilität auf die Durchschnittstypen und nur gering davon abweichende Phänotypen. Langfristig kann man dann auch von einer stabilisierenden Evolution sprechen, die eine Folge der ständig einwirkenden stabilisierenden Selektion ist.

Transformierende Selektion

Wenn sich die Umweltverhältnisse ändern, wenn bei unserer Antilopenpopulation zum Beispiel die Dürreperiode aufhört und es statt dessen für ein paar Jahre oder sogar Jahrzehnte kälter wird, so sind die bisher gut angepassten Tiere plötzlich nicht mehr so gut an die Umwelt angepasst. Bei einem Kälteeinbruch sind die Individuen, die schon immer eher kalte Verhältnisse geliebt haben, im Vorteil gegenüber ihren Artgenossen.

Langfristig sorgt jetzt die natürliche Auslese dafür, dass sich die genetische Zusammensetzung der Population ändert, so dass mehr Tiere an die Kälte angepasst sind. Das Gesamterscheinungsbild der Tiere ändert sich langfristig. Vielleicht sieht das so aus, dass immer mehr Individuen mit längeren Haaren oder dichterem Fell in der Population vertreten sind. Vielleicht werden auch die Beine, Ohren und Schwänze kürzer (ALLENsche Regel), weil Tiere, die besser mit der Wärme haushalten können, mehr Energie in die Fortpflanzung investieren können als Individuen, die nur mit Zittern beschäftigt sind.

Ein schönes Beispiel für gerichtete Selektion liefert der Hohenheimer Grundwasserversuch.

Divergierende Selektion

Konstruieren wir zunächst einmal ein Modellbeispiel, dann kann man die folgenden Ausführungen besser verstehen.

Gegeben sei wieder eine Antilopenpopulation, die in einer Gegend lebt, in der es hauptsächlich zwei Nahrungsquellen gibt: Bäume mit saftigen Blättern, die in einer Höhe von ca. 1,70 m Höhe wachsen, sowie schönes grünes Gras. Neben diesen Nahrungsquellen gibt es aber auch viele Büsche mit saftigen Blättern, die in verschiedenen Höhen wachsen.

Die Tiere unterscheiden sich in vielen Merkmalen; wir wollen uns hier aber auf die Beinlänge und die Halslänge konzentrieren. Von den möglichen Phänotypen picken wir uns die vier Extremtypen heraus:

Phänotyp 1: kurze Beine, kurzer Hals
Phänotyp 2: kurze Beine, langer Hals
Phänotyp 3: lange Beine, kurzer Hals
Phänotyp 4: lange Beine, langer Hals

Zum Fressen von Blättern ist ein langer Hals von Vorteil, ebenso wie lange Beine (Phänotyp 4). Zum Grasfressen dagegen sind kurze Beine von Vorteil, die mit einem kurzen Hals kombiniert sind (Phänotyp 1). Die Phänotypen 2 und 3 bevorzugen Büsche, deren Blätter im mittleren Bereich wachsen.

Angenommen, durch irgendwelche Umweltveränderungen werden jetzt die Bäume immer höher, und die Büsche gehen ganz zurück. Wie kann die Antilopenpopulation darauf reagieren?

Die Tiere, die schon immer Gras bevorzugt haben, sind durch das Wachstum der Bäume und den Wegfall der Büsche nicht benachteiligt. Sie kommen mit ihren kurzen Beinen und kurzen Hälsen gut zurecht.

Die Tiere mit langen Beinen und langen Hälsen bekommen jetzt zwar nicht mehr so viel Nahrung ab wie zuvor, sind aber nicht direkt gefährdet. Allerdings können viele der Individuen nicht mehr so viel fressen wie früher, und daher haben sie auch weniger Nachkommen. Ihre Fitness sinkt. Einige wenige Individuen haben jedoch besonders lange Hälse (oder besonders lange Beine) und können ohne Mühe die Blätter der höher gewordenen Bäume fressen. Sie haben im Durchschnitt mehr Nachkommen als ihre normalen Konkurrenten, und daher werden sich ihre Gene (besser gesagt: Ihre Allele) in der nächsten Generation überproportional häufig wiederfinden. Es setzt langfristig eine konvergierende Evolution ein, die für immer längere Beine und Hälse sorgt.

Die Tiere mit langen Beinen und kurzen Hälsen sowie kurzen Beinen und langen Hälsen haben immer noch Probleme, an das Gras heranzukommen. Aber jetzt sind die Büsche weg, von deren Blättern sie sich immer ernährt hatten. Aber einige dieser Individuen haben vielleicht besonders kurze Beine oder Hälse, die doch gar nicht so lang sind und spezialisieren sich auf das Fressen von Gras. Die anderen Tiere müssen gravierende Nachteile in Kauf nehmen: Ihre Fortpflanzungsrate sinkt auf einen erschreckend niedrigen Wert, falls sie überhaupt überleben und nicht verhungern.

Im Endeffekt werden also zwei Phänotypen (und die ihnen zugrunde liegenden Genotypen) die natürliche Auslese überleben: die Baumblattfresser mit langen Beinen und langen Hälsen, und die Grasfresser mit kurzen Beinen und kurzen Hälsen. Die Mischtypen werden nach einigen Generationen ausgestorben sein. Man spricht hier auch von einem Heterozygoten-Nachteil.

Wir haben nun also das Phänomen vorliegen, dass aus einer ursprünglich einheitlichen Population zwei unterschiedliche Teilpopulationen geworden sind. Solche Evolutionsvorgänge bezeichnet man als divergierende Evolution (spaltende oder aufspaltende Evolution).

Mit Hilfe populationsgenetischer Modellberechnungen kann man das Zustandekommen der divergierenden Evolution recht leicht verstehen. Siehe hierzu vor allem die Seiten "adaptive Landschaften" und "dreidimensionale adaptive Landschaften"

Wenn eine divergierende Selektion über sehr lange Zeiträume wirkt, kann es schließlich zur Artbildung kommen: aus zwei Teilpopulationen entstehen zunächst zwei Rassen, deren Individuen sich noch untereinander fortpflanzen können, und schließlich zwei verschiedene Arten.

Evolution ist ein Zwei-Schritte-Vorgang: Im ersten Schritt erzeugen Rekombinationen und Mutationen genetische Variationen in einer Population, und im zweiten Schritt verleihen die Umweltfaktoren mit Hilfe der natürlichen Auslese der Evolution ihre Richtung. Dabei unterscheidet man zwischen stabilisierender, konvergierender und divergierender Evolution.